Im Rahmen der Systemischen Aufstellungsarbeit wird auch immer wieder die Beobachtung gemacht (zumindest in Deutschland), dass die Nachfahren der Täter an ähnlichen Traumatisierungen leiden wie die Nachfahren der Opfer.

Diese Beobachtung aus der Praxis der Systemischen Aufstellungsarbeit wird auch durch eine Studie von  Alyssa J. Mansfield und ihren Kollegen von der University of North Carolina, USA bestätigt, die völlig unabhängig von den Beobachtungen in der Praxis der Systemischen Beratung stattfand.  

Wie kann das sein? – Dem Menschen an sich scheint ein Wertmaßstab für ethisches Verhalten angeboren zu sein. Solch ein Wertmaßstab kann zwar aus dem Alltagsbewusstsein gelöscht werden, z. B. durch Maßnahmen zur ›mentalen Umprogrammierung‹ (wie z.B. durch die sogenannte ››Härteausbildung‹‹ der Wachmannschaften in den Konzentrationslagern der Nazis), aber eben nicht aus dem Unterbewusstsein! Somit sind Menschen zwar dazu fähig, sehr grausame Dinge zu tun, aber in ihrem Unterbewusstsein wissen sie, dass dies falsch bzw. unmenschlich ist!

Es gibt in Familiensystemen den ›Täter 0‹ in der ›Generation 0‹ (in begrifflicher Anlehnung an den ››Patienten null‹‹); sozusagen den ›Ur-Kain‹. In den folgenden Generationen schwanken die Nachfahren zwischen ›Tätersein‹ und ›Opfersein‹, weil sie in ›systemischer Loyalität‹ so versuchen zu sein, wie ihr leiblicher Vorfahre und/oder sein(e) Opfer. – Egal jedoch, wie sehr ein Mensch in der ›ererbten‹ Täterrolle aufgeht oder ob es sich tatsächlich um den ›Täter 0‹ handelt, sie alle haben ein angeborenes Wissen darüber, dass es grundsätzlich falsch ist, einem anderen Menschen physischen und/oder psychischen Schaden zuzufügen!   

In diesem Zusammenhang stellt sich natürlich auch die Frage danach, inwieweit die Taten von Soldaten, die in einem Krieg Waffen bzw. Massenvernichtungswaffen einsetzen, ohne die Leiden und den Tod (auch) ihrer (zivilen) Opfer zu sehen (z.B. Bomberpiloten), Auswirkungen auf deren Nachfahren haben. – Ich selber habe in Hunderten Systemaufstellungen seit dem Jahr 2000 bisher weder einen Fall erlebt, in welchem z. B. die Nachfahren eines Bomberpiloten des II. Weltkrieges mit den (zivilen) Opfern der Bombardierungen verstrickt gewesen wären noch, dass in Aufstellungsseminaren verstrickte Nachfahren der ››Täter hinter den Tätern‹‹ aufgetaucht wären.

Dieser ›Nichtbeobachtung‹  steht in Deutschland die Beobachtung gegenüber, dass eine große Zahl von Nachfahren einfacher Landser und vor allem Soldaten der Waffen-SS, die Kriegsverbrechen begingen, heute (psychisch) unter diesen Taten leiden, ohne zunächst den historischen Hintergrund ihrer Leiden zu kennen!

Möglicherweise ist dies eine Bestätigung meiner Annahme, dass das menschliche Unterbewusstsein sich auf einem archaischen Niveau befindet und nur die Verantwortlichkeit für eine Tat ›kennt‹, deren Folgen unmittelbar zu beobachten sind. – Es ist aber natürlich auch möglich, dass mir solche Sachverhalte einfach noch nicht untergekommen sind (im Sinne des Kritischen Empirismus). – In diesem Zusammenhang wäre es interessant, zu recherchieren, wie es z.B. den Nachfahren der Besatzungen des Bombenflugzeuges erging, das die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki abwarf (siehe auch: https://de.wikipedia.org/wiki/Enola_Gay#Besatzung_der_Enola_Gay_beim_Angriff_auf_Nagasaki)!

 

Autor: Christian Brandau - Der Text ist unter der Lizenz »Creative Commons Attribution 4.0 International (CC BY 4.0)« verfügbar.

 

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